— die Störung —

Was gibt es über die Störung grossartig zu sagen? Mal überlegen.
Mit vollem Namen heisst das Ding laut Diagnosekatalog ICD 10 F60.31, emotional instabile Persönlichkeitsstörung, Borderline Typ. Klingt nicht besonders lustig. Ist es auch nicht. Vor allem zu Beginn nicht. Da liegt der Spassfaktor irgendwo zwischen Steuererklärung und Darmspiegelung. Das Gute ist, dass sich daran arbeiten lässt. Und im Laufe der Zeit wird es leichter. Wie lange diese Zeit im Einzelfall ist, kann allerdings niemand vorhersagen. Das kann demotivierend und beängstigend sein, und eine genau Angabe der voraussichtlichen Leidenszeit wäre manchmal echt erleichternd, aber selbst die besten Therapeutinnen sehen auch in perfekt polierten Glaskugeln bloss die Gegenwart. Und die ist erst einmal recht ekelhaft. Wer ganz am Anfang steht, sieht sich mit neun Kriterien aus dem ICD 10 konfrontiert, von denen fünf erfüllt sein müssen, um die Diagnose zu bekommen (tja, sorry Leute, die gibt's eben nicht umsonst; dafür muss man schon was tun). Das ist insofern absurd, als dass es demnach genau 619921 verschiedene Möglichkeiten gibt (so macht Kombinatorik Spass!), wie sich die Diagnose zusammensetzen kann. Eine einzige Diagnose wohlgemerkt. Was in Anbetracht dieser Zahl erstaunlich ist: Es gibt trotzdem nicht wenige Gemeinsamkeiten.
Die Hochspannung zum Beispiel, in die wir sehr schnell geraten und aus der wir nur sehr langsam wieder herausfinden (es sei denn, wir helfen mit irgendwas Dysfunktionalem nach).
Damit verbunden die grosse Mühe mit Emotionsregulation. Ein Gefühl kommt nämlich selten allein. Und gemeinsam fühlen sich die Biester auch noch wahnsinnig stark (ein Hoch auf den Gruppenzwang...).
Oder die Unfähigkeit, einen gesunden Umgang mit Nähe und Distanz zu leben. Ich hasse dich - verlass mich nicht. Ein Buchtitel übrigens, der wirklich treffend ist (damit wären die Treffer des Buches allerdings auch schon ausgeschöpft).
Der Drang nach irgendeiner oder mehrerer Arten von Selbstschädigung. Um obengenannte Gefühle zu regulieren, oder um in Zeiten völliger Leere - auch typisch - überhaupt wieder irgendwas zu spüren.
Das nicht vorhandene Selbstwertgefühl. Obwohl, eigentlich ist das masslos untertrieben. Wenn wir es so nennen können, sind wir schon ganz schön weit. Zuvor ist da nämlich Hass. Hass auf diese unwürdige, ekelhafte, wertlose Person, die es wagt, uns ihr vor Abscheulichkeit triefendes Gesicht vor Augen zu führen, wenn wir in den Spiegel schauen. Und das sind die guten Tage. An schlechten Tagen bleibt nur abgrundtiefe Verachtung für alles, was wir denken, fühlen, sagen, tun oder sind. Kannst du verdammtes Stück Dreck nicht leiser kauen? Bist du wirklich zu blöd, wie ein normaler Mensch im Bett zu liegen? Hör endlich auf, dem Staub auf dem Nachttisch die Luft wegzuatmen! Wie gesagt: für wirklich alles.
Und weil wir uns so dermassen nicht leiden können, ist es unvorstellbar, dass andere es können. Und wenn sie es doch können, dann können wir etwas Entscheidendes nicht: ihnen vertrauen. Relativ suboptimale Voraussetzungen für die Beziehungsgestaltung also.
Was wir sonst noch kennen: Glaubenssätze. Das sind fiese, kleine Viecher, die sich (meist in der Kindheit, aber sie haben auch im Erwachsenenalter noch Wachstumspotential) irgendwann eingeschlichen haben und damals sogar Sinn machten. Uns geholfen haben, Dinge, die wir nicht verstanden, wenigstens halbwegs einzuordnen. So macht ein von Herzen kommendes Ich bin nichts wert, wenn ich nicht mindestens 150% leiste durchaus Sinn für ein kleines Kind, das nur bei enormer Leistung Anerkennung und Zuneigung von den Eltern erfährt. Das Gemeine an der Sache ist nur, dass sich diese Überzeugung nicht so leicht abschütteln lässt. Und das Denken, Fühlen und Verhalten auch dann noch beeinflusst, wenn das kleine Kind längst kein Kind mehr ist. Der erwachsene Mensch schafft es nicht, sich selbst auch nur eine Fünfminutenpause zu gestatten, wenn vorher nicht dreizehn Tierarten vor dem Aussterben gerettet, die Hungersnot in Afrika beendet und Trumps Hirn auf Erbensgrösse aufgeblasen wurden. Müdigkeit? Ruhebedürfnis? Nach nur vierzehn Stunden Arbeit? Vergiss es! Beweg dich gefälligst, du faules Stück! Dass daran nicht mehr viel Hilfreiches ist, liegt auf der Hand. Und mehr noch: Fast jede dieser inneren Überzeugungen zieht weitere nach sich. Glaubenssätze sind nämlich im Allgemeinen Herdentierchen. Und vermehren sich wie genoptimierte Feldmäuse. Was es noch viel schwieriger macht, sie zu relativieren. Wo soll man da bloss anfangen?

Es gäbe noch weitere Beispiele. Viele weitere. Immerhin gibt es ja auch über eine halbe Million Möglichkeiten, zu dieser Diagnose zu kommen (fast erstaunlich, dass nicht noch mehr Menschen die Chance ergreifen). Aber fürs Erste reicht es wohl.
Nur so viel noch: In den Allermeisten Fällen braucht es Hilfe von aussen, um damit leben zu lernen. Professionelle Hilfe. Einen Therapeuten oder eine Therapeutin, der oder die sich mit der Thematik auskennt (und nicht bloss denkt, dass es so ist). Manchmal reicht eine ambulante Behandlung aus, und manchmal ist ein stationärer Zwischenhalt nötig. Was auch keine Schande ist. Wer das Magenschwür mit Hilfe des Hausarztes nicht los wird, geht schliesslich auch ins Krankenhaus. Der Unterschied ist nur, dass für die Behandlung des Magengeschwürs ein guter Arzt und die passende Behandlung meist ausreichen. Bei Borderline (und allen anderen psychischen Erkrankungen) braucht es zur Besserung und Genesung auch noch eine riesige Portion Kraft, Willen und Durchhaltevermögen des Patienten. Selbst die beste Therapeutin mit der meisten Erfahrung und dem grössten Feingefühl ist völlig chancenlos, wenn der Mensch gegenüber nicht will. Was sich nicht erzwingen lässt. Irgendwie ungüngstig, aber doch auch ganz gut so.


Ach ja, eines noch: Das isländische Warnschild da oben hängt übrigens vor einer heissen Quelle und weist Besucher netterweise auf die gesundheitsschädliche Wirkung des über 100°C heissen Wasserdampfs, der dann und wann ohne Vorwarnung aus dem Boden schiesst, hin. Würde ich mir manchmal gern an die Stirn tackern, so ein Warnschild. Damit die Besucher auf meinem Pfad wissen, wann sie besser Abstand halten sollten. Ich will schliesslich im Normalfall niemanden kochen, nur weil es in mir gerade kocht. Eigentlich bin ich ja ganz sozial. Trotz Borderline. Wer hätte das gedacht.

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