Entscheidung für den neuen Weg

16.07.2017

So heisst ein Kapitel im DBT-Manual. So heisst eine Spalte auf der Diarycard. So heisst einer der unbeliebtesten, weil mühsamsten Skills. So heisst das, was ich gerade ununterbrochen anwende. Anwenden muss. Weil diese Entscheidung momentan nicht ganz so selbstverständlich ist, wie ich es gerne hätte. Wie sie in den letzten Wochen und Monaten war. 

Aber kurz (das glaubt mir keiner...) zur Erklärung: Die Entscheidung für den neuen Weg bedeutet, dass wir immer dann eine Wahl treffen müssen, wenn wir uns an einer Gabelung zwischen neuem, gesünderem und altem, dysfunktionalem Verhalten befinden. Zum Beispiel also dann, wenn die Anspannung steigt und steigt und der Drang nach Selbstverletzung immer grösser wird, bis er kaum noch zu ertragen ist. Aber so lange, wie wir die Klinge nicht angesetzt und zugedrückt haben, ist die Entscheidung noch möglich. Zu spät ist es erst, wenn es zu spät ist. Also: Selbstverletzung, die schnelle Erleichterung verspricht oder Stresstoleranzskills, die eine längere Inkubationszeit haben und im schlimmsten Fall überhaupt nicht wirken? Nummer zwei klingt nicht nach der besten Option. Und das ist das Fiese am neuen Weg: Der klingt nämlich nie nach der besten Option. Oft noch nicht einmal nach einer Guten, jedenfalls dann nicht, wenn die Entscheidung gerade getroffen werden muss  (was die Sache natürlich unheimlich erleichtert...). Deshalb steht dann auch auf dieser einen Seite in unserer heiligen Schrift: Da, wo die Angst ist, da geht's lang. Oh ja, vielen Dank. Motivierender geht's kaum. Untermalt wird der hübsche Satz durch eine niedliche Zeichnung von Rotkäppchen, die auf dem neuen Weg an zwei auf dem alten Weg wartenden Wölfen vorbeispaziert. Wie süss. Was der Illustrator leider vergessen hat: Auf diesem neuen Weg warten statt der Wölfe noch weitaus furchteinflössendere Gestalten auf uns. Unzähmbar, wild, und vor allem deswegen so gefährlich, weil wir sie nicht einschätzen können, nicht kennen. Wir selbst nämlich. Unsere ärgsten Feinde. Und, was irgendwie unfair ist, damit die Menschen, die uns als einzige wirklich aus dem Sumpf ziehen können. Pfleger, Therapeuten, Ärzte, Familie, Freunde, sie alle können uns - wenn's passt und wir uns darauf einlassen - helfen, den neuen Weg zu finden. Aber gehen müssen wir ihn selbst. Eine Portion Eigenverantwortung zum Mitnehmen, bitte.

So. Und nun, weil das natürlich längst nicht genug Text ist, etwas konkreter. Ich bin seit Tagen emotional dermassen leer, dass ich mich gerne selbst ans Langzeit-EKG hängen würde, um einen Beweis dafür zu haben, dass ich noch lebe. Die gelegentlichen Weinkrämpfe, die ich wider Erwarten keinem Gefühl zuordnen kann, helfen da nur unwesentlich, und es ist ziemlich mühsam, sich immer wieder per Verstand versichern zu müssen, am Leben zu sein (wie konnte Descartes sich bloss mit ich denke, als bin ich zufrieden geben?). Und weil ich mir meine Diagnose ja in aufrichtiger Arbeit verdient habe, würde etwas in mir zu gern zur Klinge greifen. Körperteile filetieren, nur, um wieder irgendwas zu spüren. Schmerz kann so wahnsinnig befreiend sein. Blut sehen, dessen Wärme fühlen und wieder da sein. Wenn ich die Wahl habe zwischen dem Nichts und dem Schmerz, dann wähle ich den Schmerz. Wie wahr. Es würde funktionieren, auch nach über einem Jahr Abstinenz. Das weiss ich, und das macht es noch viel schwerer, darauf zu verzichten. Weil alles andere nämlich gerade nicht funktioniert. Kein Sport, kein Schreiben, keine Tiere, keine Menschen. Es wäre so einfach. Warum auch nicht? Auf ein, zwei neue Narben kommt's schliesslich auch nicht mehr an. Klingt logisch. Nachvollziehbar. Wenn nur, und damit wären wir wieder beim Thema, diese Entscheidung für den neuen Weg nicht - nun ja, im Weg - stünde. Und mit ihr das Erfahrungswissen (weil ich gerade philosophisch bin: nach Kant eine Erkenntnis a posteriori), dass Selbstverletzung im Grunde nichts besser macht. Das heisst nicht, dass es eine Katastrophe ist, wenn es passiert. Und vielleicht passiert es auch irgendwann wieder. Nur kriege ich es nicht mehr hin, mich selbst zu belügen und mir einzureden, dass ich nicht anders kann. Ich kann nämlich anders. Ich habe mich noch nicht geschnitten, also kann ich mich noch immer dagegen entscheiden. Und tue es. Halte die Leere stattdessen aus. Schreibe meiner Therapeutin eine Mail. Zur Sicherheit. Wenn sie von diesem Drang weiss, ist er leichter zu ertragen. Das funktioniert wie ein Versprechen: Ich verletze mich nicht, bis wir uns das nächste Mal sehen. Punkt. Ohne, dass sie etwas dazutun muss, habe ich das Gefühl, dass sie meine Entscheidung für den neuen Weg ein Stück weit mitträgt. Und damit auch die Leere. Die Tränen. Das Unterträgliche, das ich eben doch ertrage, wenn die Entscheidung einmal gefallen ist.

Das klingt vielleicht etwas einfacher, als es ist. Und das soll auf keinen Fall heissen, dass an diesem unaustehlichen "Hör doch einfach damit auf!", das viele von uns leider sehr oft von Aussenstehenden zu hören bekommen, etwas dran ist. Nein. Nein. Ich will diesen Satz von niemandem hören, der nicht weiss, wie es sich anfühlt, an diesem Scheidepunkt zu stehen, daran zu verzweifeln und aus lauter Verzweiflung doch falsch abzubiegen, weil die Angst vor dem Neuen zu gross ist. Ich würde mir auch nicht anmassen, einem anderen betroffenen Menschen sowas zu sagen (mit ganz wenigen Ausnahmen und nur in eindeutigem Kontext). Aber ich darf mir selbst sowas sagen. Ich darf mir selbst sagen, dass Selbstverletzung nichts bringt, dass ich es lassen soll, dass ich stattdessen aushalten kann, was auch immer kommt. Und ich tue es. Fast stündlich zur Zeit. Mühsam. Anstrengend. Energieraubend. Kräftezehrend. Aber es hilft. Weil ich mich für den neuen Weg entschieden habe. Dass auf diesem neuen Weg immer die Sonne scheint und mir honigtrinkende Einhörner mit regenbogenfarbenem Fell entgegenhüpfen, hat keiner gesagt.

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