Intensität

25.07.2017

Intensität. Von intensitas. Im 18. Jahrhundert aus dem Neulateinischen entlehnt. Bedeutet: Anspannung, Kraft, Eindringlichkeit, Stärke. Anspannung also. Anspannung als Übersetzung für etwas, was die borderlin'sche Gefühlswelt treffend beschreibt. Hmm. Passend. So passend, dass man meinen könnte, zwischen Etymologie und Diagnose bestünde ein Zusammenhang. Tut er wahrscheinlich nicht. Weil's zeitlich nicht zusammenpasst. Aber inhaltlich. Dann ist der Zusammenhang jetzt eben meiner. Ein bisschen Egoismus zu später Stunde.
Mit Gefühlen ist das so eine Sache. Eine ziemlich anstrengende Sache. Dann jedenfalls, wenn man sie sehr viel intensiver wahrnimmt, als es die meisten Menschen um uns herum tun.
Wenn Andere sich freuen, lachen sie, erzählen sie, teilen sie die Freude, spüren sie eine angenehme Kraft. Wenn wir uns freuen (wenn wir uns freuen), schreien wir vor Glück, sprudeln Worte aus uns, die in Lichtgeschwindigkeit Autarkie erreichen, reissen wir unsere Umgebung mit hinein und wissen nicht, wohin mit all der euphoriegetränkten Energie.
Hört sich toll an? Ist es auch. Bis es uns Angst macht. Und das geschieht. Früher oder später immer.
Wenn Andere Angst haben, suchen sie Schutz, verlassen die Situation oder wehren sich vielleicht, ihr Puls ist erhöht, der Körper weniger beweglich, die Sinne auf den Auslöser fokussiert, vielleicht holen sie sich Hilfe, vielleicht sprechen sie darüber, meist wird die Angst dann kleiner. Wenn wir Angst haben, erstarren wir, flüchten wir oder schlagen um uns, blind vor Panik wie ein von allen Seiten umzingeltes, alleingelassenes Fluchttier. Die Welt verschwindet aus unserem Blickfeld, da ist nur noch die Angst und das, was uns Angst macht. Wir sind vollkommen allein damit, das Herz rast, bis das EKG nur noch moderne Kunst ist, unfähig, daran etwas zu ändern, weil wir die Stimme verloren haben, weil wir nur noch stumm schreien können und niemand unsere Not versteht.
Hört sich nicht mehr so toll an? Ist es auch nicht. Und es macht, wenn die Panik erstmal vorbei ist, ziemlich oft ziemlich traurig.
Wenn Andere Menschen traurig sind, suchen sie Trost - bei sich selbst oder bei anderen -, weinen vielleicht, reden darüber, fühlen sich müde und legen eine Pause ein, um wieder zu Kräften zu kommen. Wenn wir traurig sind, hassen wir uns dafür. Weil wir nicht das Recht dazu haben. Weil wir zu schwach sind, um stark zu sein. Traurigkeit ist etwas für kleine Kinder und schwache Menschen. Tränen ersticken wir, solange wir können, weil sie ausdrücken, was nicht ausgedrückt werden darf: dass wir gerade jemanden bräuchten. Jemanden brauchen, das bedeutet Abhänigkeit, das bedeutet Kontrollverlust, das bedeutet Ausgeliefertsein. Traurigkeit können wir kaum zulassen. Denn wenn wir es täten, dann würde sie uns mit sich in ein kaltschwarzes Nichts reissen, würde uns unter sich begraben und uns jeden Lichts berauben, solange, bis wir qualvoll unter ihrem Gewicht erstickten. Wenn wir sie zuliessen, lähmte sie uns, stundenlang, tagelang, wochenlang, isolierte sie uns, weil es keine Worte gäbe, sie zu beschreiben.
Hört sich noch weniger toll an? Ist es auch nicht. Ganz und gar nicht.
Gefühle in dieser Intensität wahrzunehmen, löst - und deshalb passt die ursprüngliche Bedeutung so unverschämt gut - Anspannung aus. Bisweilen unheimlich starke Anspannung. Und die wird dadurch noch einmal ganz immens verstärkt, dass wir Gefühle zwar sehr viel intensiver wahrnehmen als Andere, sie dafür aber auch sehr viel stärker unterdrücken. Das ist - um mal wieder einen metaphorischen Abstecher nach Island zu wagen -, als würde man versuchen, einen Vulkanausbruch dadurch zu verhindern, dass man auf die potentielle Ausbruchstelle ein Pflaster klebt. Wenn das sehr, sehr gross und sehr, sehr dicht ist, funktioniert das vielleicht eine Weile, es ist nur unwahrscheinlich kräfteraubend. Aber unterirdisch steigt das Magma trotzdem weiter auf. Unter der Oberfläche brodelt es gewaltig, und je angestrengter wir das Pflaster andrücken, je verzweifelter wir es festzuhalten versuchen, desto grösser wird der Druck in unserem Erdinneren. Und - wie das bei Vulkanen so ist - irgendwann knallt's. Ganz gewaltig. Heftiger, als wir es für möglich gehalten hätten. Lauter. Heisser. Flächendeckender. Zerstörerischer. Die Aschewolke legt nicht bloss den europäischen Luftraum für ein paar Tage lahm. Sie rast durch unser Universum, hüllt alles in Grau, was einst in uns lebte, erstickt uns von innen heraus, und weil das nicht reicht, kämpfen wir, mitgerissen vom tosenden Lavastrom, verzweifelt gegen das Ertrinken in flüssigem Gestein an. Ein scheinbar aussichtsloser Kampf.

Und nun? Meistens überleben wir doch irgendwie. Nicht immer unbeschadet, aber immerhin. Nur vergessen werden wir diese Ausbrüche nicht. Und unser Umfeld oft auch nicht. Wir schämen uns dafür, wir fühlen uns schuldig, und wir haben Angst vor dem nächsten Ausbruch. Die logische, aber destruktive Konsequenz: grössere Pflaster! Stärker drücken! Auch wenn tief in uns etwas ganz genau weiss, dass ein Vulkanausbruch nicht verhindert werden kann. Das kriegen nicht mal die Isländer hin, und die leben praktisch auf den Dingern. Das Erstaunliche an den Isländern ist allerdings, wie gelassen sie die ständige Gefahr hinnehmen. Sie beobachten einfach, was sich unter ihrer Erde so tut, um die Frühwarnzeichen zu erkennen, und wenn diese sehr deutlich sind, dann bringen sie sich wenn möglich in Sicherheit. Das klappt manchmal, und das klappt manchmal auch nicht. Dann müssen Häuser wieder aufgebaut, Weideland erneuert und der Verlust von Mensch und Tier betrauert werden. Das tun die Isländer auch. Ohne darin unterzugehen. Ohne das Land zu verlassen aus Angst vor dem nächsten Vulkanausbruch. Weil diese Ausbrüche eben dazugehören. Zu ihrer Heimat. Und weil sie dazugehören, nutzen die Isländer die geologischen Besonderheiten zu ihrem Vorteil. In Form von Erdwärme zum Beispiel. Heizkosten kennen die Isländer nicht; das heisse Wasser kommt tatsächlich gratis aus dem Hahn. An den Schwefelgeruch gewöhnt man sich übrigens. Auch wenn er anfangs echt - Achtung, Wortwitz - höllisch ist.

Scheint, dass wir von den Isländern einige Dinge lernen können.
Erstens: Weil auch wir eine Vulkaninsel in uns tragen, sind Ausbrüche unumgänglich.
Zweitens: Selbst das grösste Pflaster hält das Magma nicht auf.
Drittens: So heftig sie auch sein mögen, wir überleben diese Ausbrüche.
Viertens: Entstandene Schäden lassen sich oft reparieren.
Fünftens: Auch mit irreparablen Schäden geht das Leben weiter.
Sechstens: Um solche zu vermeiden, ist es wichtig, die Frühwarnzeichen zu erkennen.
Siebtens: So zerstörerisch diese Kräfte auch sein mögen, so wunderbar können sie auch sein, wenn wir lernen, sie für statt gegen uns zu nutzen.

Borderline. Das ist der Vulkan in uns, wo in anderen Menschen der Wasserkocher ab und zu überbrodelt. Borderline. Das bedeutet Intensität. Intensität in allem, was wir fühlen.

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