Komorbidität

Ein unschönes Wort. Eines, bei dem man schnell mal danebentippt. Und es vielleicht gar nicht merkt, weil die Buchstaben auch in der richtigen Reihenfolge eher nach Chaos denn nach Ordnung aussehen. Was für eine hübsche Metapher.
Ist bei Komorbiditäten nicht anders. Man weiss oft nicht so recht, ob das nun eigenständige Krankheitsbilder sind oder doch nur sehr ausgeprägte Symptome der Hauptdiagnose.
Definiert sind sie als Begleiterkrankungen, die zusätzlich zu der eigentlichen Diagnose auftreten können. So kann zum Beispiel jemand, der an einer Essstörung leidet, im Laufe der Zeit eine Zwangserkrankung entwickeln (bei Anorexia nervosa gar nicht so selten der Fall). Kommt bei Borderline recht häufig vor; manche Krankengeschichten hören sich an, als seien Diagnosen Herdentiere. Ich hatte selbst meine kleine Herde. Drei Stück waren es, bei einer Vierten war man sich nicht sicher. Zwei davon sind mittlerweile remittiert. Nach und nach sind sie verschwunden. Wobei, das stimmt nicht ganz: Es war harte Arbeit. Unheimlich hart. Schmerzhaft, aufwühlend, tränenreich und fürchterlich anstrengend. So anstrengend, dass ich mehr als einmal dachte, nicht die Kraft zu haben, um weiterzumachen. Aber ich hatte sie. Und es hat sich gelohnt. Was bleibt? Borderline. Aus drei mach eins. Und gerade scheint es, als würde sich mein emotional instabiler Dämon etwas einsam fühlen. Wie der eine kleine Jägermeister, der übrigblieb.
Eine kleine Diagnose war nicht gern allein,
'drum lud sie sich zur Sommerzeit
neun neue Symptome ein.
Oder so ähnlich. Passt aber ganz gut, auch wenn die Metrik ein wenig leidet. Die neuen Symptome? Depressiver Art. So neu sind die zwar nicht, aber neu in ihrer Intensität. Neu in ihrer Dauer. Neu, dass sie ohne erkennbaren Grund auftreten. Ob es neun sind, habe ich zwar nicht nachgezählt, aber sie sind ganz schön hartnäckig. Antrieb, Energie, Motivation, Konzentration, Freude, Appetit, Schlafrhythmus, Körpergefühl, Emotionen: Fehlanzeige (ist ja witzig, es sind tatsächlich neun - Zufall, echt!). Seit über einer Woche schon. Macht irgendwie keinen Spass. Dafür aber ziemlich hilflos. Wie ich Emotionen abschwächen kann, wenn sie zu stark sind, weiss ich mittlerweile. Wie ich mit diversen Handlungsimpulsen umgehen soll, ebenfalls. Aber was ich tun soll, wenn da keine Emotionen sind, die ich abschwächen könnte, das weiss ich nicht. Und wie ich einen Handlungsimpuls nicht umleiten, sondern grundsätzlich erstmal herbeiführen kann, auch nicht. Mein einziger Impuls ist nämlich die Nichthandlung. Rumliegen. Die Decke anstarren. Schlafen, weil's so anstrengend ist. Die Decke ist immerhin etwa zweieinhalb Meter von meinem Bett entfernt. Diese Starrdistanz muss auch erstmal überwunden werden. Und dann von vorne.
Es wäre verlockend, irgendwie. Aber es hilft eben nicht. Semiideal, dass alles andere gerade auch nicht hilft. Aber es gibt Dinge, die es im Gegensatz zu meinem Nichtimpuls wenigstens nicht noch schlimmer machen. Regelmässig und ausgewogen essen zum Beispiel. Aufstehen. Frische Luft. Bewegung. Sonne tanken. Ausreichend trinken (ohne Flüssigkeit kein Serotonin - Wasser als Droge sozusagen). Oder einfach am Leben bleiben. Klingt total einfach. In der Theorie. In der Praxis sitze ich zwei Stunden lang vor einem Sudoku, starre an den Zahlen vorbei ins Nichts und merke nicht, dass ich nicht weiterkomme, was sehr ungewöhnlich ist. Immerhin: Ich sitze dabei, und zwar auf dem Balkon. Quasi Outdoorsport. Dann kann's ja nicht so schlimm sein. Gut, ich könnte momentan meinen Schrittzähler durch einen Bewegungsmelder ersetzen, und Hörbücher strengen mich an, weil ich mir vorstelle, dass da irgendwer liest. Aber vielleicht - wahrscheinlich - darf das gerade so sein. Die Symptome. Damit meine einsame Diagnose sich nicht so einsam fühlen muss. Aber, und das ist es, was mich gerade trägt, diese Symptome bestimmen nicht mein Handeln. Das lasse ich nicht zu. Gilt schon für Borderline, sehr oft jedenfalls. Wo kämen wir denn da hin, wenn ich stattdessen einer Komorbidität dieses Recht einräumte?