Krankheit als Ausrede

07.08.2017

Wie der Titel schon sagt. Ein heikles Thema, ich weiss. Aber auch ein Wichtiges. Gerade weil es so heikel ist. Und eines, bei dem ich wirklich nur von mir sprechen kann, auch wenn ich davon ausgehe, dass es einigen Betroffenen ähnlich geht. Es wäre anmassend, diesbezüglich Behauptungen aufzustellen. Und vor allem will ich auf gar keinen Fall, dass Aussenstehenden das Bild vermittelt wird, wir würden unsere Krankheit bloss vorschieben, um uns nicht anstrengen zu müssen. So ist das nicht! Borderline ist ein verdammter Kampf gegen die inneren Dämonen, und auch wenn die ausser uns keiner sieht, sind sie unbestreitbar da. Und können uns das Leben bisweilen ganz schön zur Hölle machen (liegt wohl in der Natur der Viecher: Die fühlen sich in grosser Hitze einfach wohler).
Aber zum Thema.
Also. Ausnahmsweise ohne lange Einleitung und Ausflüge in die wunderbare Welt der Metaphorik: Ich habe meine Krankheit(en) sehr, sehr oft als Ausrede benutzt. Für alles Mögliche. Und für alle Unmögliche. Für alles, was ich nicht wollte, obwohl ich gekonnt hätte. Für Fehler, zu denen ich nicht stehen wollte. Und für Fehler, die eigentlich keine waren, aber von Anderen als solche gesehen wurden. Es ist nämlich wesentlich einfacher, eine Krankheit als Entschuldigung vorzuschieben, anstatt sich einzugestehen, dass man sich gar nicht entschuldigen will, weil es dafür keinen Grund gibt. Tut mir wirklich leid, ich würde dir da echt gerne helfen, aber mir geht's gar nicht gut. Ein Standardsatz, wo eigentlich ein Ich möchte das nicht tun oder ein Ich möchte jetzt allein sein angebracht gewesen wäre. Hört sich nach akzeptabler Notlüge an? Vielleicht. Man will ja niemanden verletzen. Klingt schön. Sozial kompatibel, moralisch vertretbar. Noch zwei weitere Jahre und Mutter Theresa hätte Konkurrenz bekommen. Nur habe ich für meinen Teil dabei ausser Acht gelassen, dass ich mit all diesen Ausreden doch jemanden verletzt habe. Nicht immer gleich tief, aber eben doch immer. Mich selbst. Und zwar nachhaltig. Wenn ich so darüber nachdenke, habe ich mich hinter all diesen Ausreden, hinter jedem Ich kann nicht und hinter jedem Ich weiss nicht so erfolgreich selbst versteckt, dass es mir nun unheimlich schwer fällt, mich wieder zu finden. Oder mich überhaupt zu finden.
Natürlich waren diese Sätze nicht immer gelogen. Natürlich gab und gibt es Dinge, die ich wirklich nicht konnte und kann und Dinge, die ich wirklich nicht wusste und weiss. Wäre ja unmenschlich, wenn's anders wäre. Aber viel häufiger habe ich meine Krankheit vorgeschoben, um etwas nicht können zu müssen, was ich eigentlich bloss nicht wollte und um etwas nicht wissen zu müssen, wovor ich eigentlich bloss Angst hatte. Das äussere Ergebnis war zwar dasselbe: Ich musste nicht. Für eine Krankheit hat man ja Verständnis. Nur hat das meinem Selbstwertgefühl nicht gut getan. Ganz und gar nicht. Besonders dann nicht, wenn ich nicht nur Andere, sondern auch mich selbst belogen habe. Wenn ich für alles, was nicht so lief, wie es hätte laufen sollen, meine Diagnose vorgeschoben habe. Ein Streit? Ich kann nichts dafür, ich bin eben nicht beziehungsfähig. Borderline halt. Konsequente Vermeidung unangenehmer Situationen? Ich kann nichts dafür, ich bin eben nicht belastbar. Borderline halt. Mich klein machen, um keine Verantwortung übernehmen zu müssen? Ich kann nichts dafür, ich bin eben zu unfähig. Borderline halt. Und so weiter.
Nein, verdammt!
Das Leben mit Borderline ist manchmal anstrengend bis an die Belastungsgrenze und darüber hinaus, ja. Borderline kann - übertragen oder wortwörtlich - zum Kotzen sein, ja. Borderline erschwert sehr, sehr Vieles, ja. Aber! Borderline verunmöglicht nichts. Borderline ist niemals der Grund, etwas nicht zu können. Borderline kann der Grund sein, etwas noch nicht zu können. Für etwas mehr Zeit oder mehr Kraft oder von beidem mehr zu brauchen. Öfter auf die Schnauze zu fallen und sich tiefere Schrammen dabei zu holen (so richtig schön mit kleinen Steinchen und Eiter drin). Aber Borderline ist kein Grund, um liegen zu bleiben. Borderline kann das Meer sein, das meterhohe Wellen aufwirft, während du verzweifelt versuchst, zur rettenden Insel zu schwimmen, die du vor lauter Wasser in den Augen nicht mehr siehst. Aber Borderline ist nicht der Zementblock, der dich ertrinken lässt. Dieser Zementblock bist du selbst. Das muss ich mir immer und immer wieder sagen. Ich kann nicht mehr und nicht weniger, weil ich Borderlinerin bin. Ich bin einfach nur ich, mit Stärken und mit Schwächen, und aufgrund meiner Diagnose muss ich mich etwas mehr anstrengen, um an den Schwächen zu arbeiten. Immerhin treten aber auch die Stärken deutlicher hervor. Eigentlich ein ganz netter Ausgleich.
Zum Abschluss sei gesagt, dass ein Ich kann nicht (egal was - alles Mögliche eben) durchaus sehr typisch ist für uns Borderliner. Weil wir uns selbst gerne abwerten, wo immer es geht und uns durch unsere Biographie leider beigebracht wurde, dass wir generell eher zur unfähigen Sorte Mensch gehören. Was Unsinn ist. Borderline macht niemanden unfähig. Aber Borderline lässt uns genau das fühlen. Ein solches Ich kann nicht ist dann keine Ausrede, sondern ein Symptom. Allerdings eines, woran wir arbeiten können. Denn, und hier ist Redundanz ausnahmsweise angebracht: Borderline ist nie der Grund dafür, warum etwas nicht geht.
Ich kann nicht, weil ich krank bin zählt nicht. Nicht mehr, jedenfalls nicht für mich. Stattdessen übe ich mich jetzt in es ist okay, wenn mir etwas aufgrund der Krankheit schwerer fällt. Und, für mich ganz besonders wichtig: Es ist ebenso völlig okay, etwas einfach nicht zu wollen. Obwohl ich könnte. Nur belügen möchte ich mich nicht mehr. Und Andere auch nicht.
Andererseits... Ich kann nichts dafür, ich bin eben manipulativ. Borderline halt. So. Ein bisschen Ironie zum Schluss. Schadet wahrscheinlich niemandem (und wenn doch: Ich kann nichts dafür, ich mache eben alle anderen Menschen kaputt. Borderline halt).

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