Die kleinen Dinge

28.07.2017

Da steht man morgens auf, sogar sowas wie wach, und während das Hirn ganz gemütlich hochfährt und so langsam die Betriebstemperatur erreicht, stellt man fest, dass alles ganz gut ist. Das Wetter ist zwar nicht überragend, aber die Wolkendecke ist überschaubar. Die WC-Ente quakt zwar nicht gerade Tina Turners Simply the Best zur Begrüssung, aber sie verzieht auch nicht das Gesicht, wenn man das Bad betritt. Man fühlt sich beim Blick in den Spiegel nicht unbedingt supercalifragilisticexpialigetisch - aber doch ganz annehmbar.
Und dann geht's los. Beim Zubereiten des Frühstücks fällt der Löffel runter. Auf die Socken natürlich, und natürlich klebt schon Jogurt dran. Am Löffel, und jetzt auch an den Socken. Was soll's, denkt man, passiert eben. Aufheben, abwaschen (den Löffel), weitermachen. Bis die ersten fünf Himbeeren vor lauter Pilzen halluzinierend aus der Packung springen. Grossartig. Dann eben Heidelbeeren. Die sind irgendwie resistenter. Schmecken nur leider auch nicht ganz so toll. Aber egal, man kann ja wieder Himbeeren kaufen. Für morgen dann eben. Weil man gerade nichts zu tun hat, legt man sich nach dem Frühstück wieder hin. Nur für eine halbe Stunde. Die natürlich gerade dann zu Ende ist, wenn man so richtig schön eingedöst ist. Mein Wecker, mein Feind. Was nun? Zu müde zum Lesen, aber auf Youtube hat man gestern eine Dokumentation entdeckt, die ganz interessant schien. Passt. Bis auf die Tatsache, dass der Ton nicht anspringt. Und der Onlineschnellkurs Lippelesen für Anfänger ist leider ausgebucht.
Irgendwann ist dann Mittag. Und der Tag, der eigentlich ganz gut angefangen hat, hat sich zum absoluten Scheisstag entwickelt. Die Stimmung kratzt an der Nullgradmarke. Kelvin. Nicht Celsius. Und man fragt sich, woran das eigentlich liegt. Ist doch irgendwie gar nichts vorgefallen?
Nichts Grosses, nein. Aber da sind ganz viele, kleine Dinge zusammengekommen, die für sich stehend zwar harmlos wären, in der Summe aber zu einem riesigen, schwarzen Klumpen wurden, der bleischwer auf dem Gemüt liegt und jede Bewegung anstrengend macht, als wate man durch Kaugummi.
Ein solcher Tag ist heute. Bisher jedenfalls. Bis ich vor einer halben Stunde eine ziemlich geniale Erkenntnis hatte: Es geht auch umgekehrt. Wenn gute Tage durch kumulierte Kleinigkeiten zu schlechten Tagen werden können, dann können schlechte Tage durch kumulierte Kleinigkeiten auch wieder besser werden. Vielleicht nicht gut, aber besser. Nicht mehr so kaugummiklumpenhaft.
Nur, woher nehme ich diese kleinen Dinge? Das ist das Fiese an der Geschichte: Während die unschönen Dinge meist einfach so passieren, ohne dass man grossartig danach suchen müsste (obwohl gerade wir Borderliner sehr gut darin sind, diese Dinge aufzuspüren - da könnte manch ein Suchhund noch was lernen), bedürfen die schönen Dinge einer gewissen Aktivität. Auch die passieren zwar manchmal einfach so (und wahrscheinlich gar nicht seltener als ihre Antagonisten), aber für uns, die wir Goldmedaillenträger in der Kategorie Abwertung sind (einzeln und in der Mannschaft), ist es Arbeit, sie anzunehmen. Sie als solche zu sehen. Man kann Sonnenschein als etwas Schönes betrachten, dass einfach so passiert. Oder man ist Borderliner. Dann ist die Sonne bloss eine riesige, viel zu heisse Kugel, die das Gras austrocknet, den Fischen im See den Sauerstoff klaut, uns unnötig schwitzen lässt, Busfahrten zur Qual macht und uns zu guter Laune zwingt, wo wir doch eigentlich gerade mies drauf sein wollen. Oder müssen. Und so geht das weiter. Mit so ziemlich allem. Jedenfalls dann, wenn wir nichts dagegen tun. Denn die Abwertung funktioniert ungefähr so autonom wie die Atmung, während wir schlafen. So absurd es klingt: Schönheit ist Arbeit. Jedenfalls für Borderliner. Und für plastische Chirurgen. Aber eine, die sich lohnt. Jedenfalls für Borderliner. Was die plastischen Chirurgen angeht... Nun ja.
Ich arbeite also gerade.
Ich habe eine halbe Stunde lang meinen Hund gekrault und ihm beim Schnarchen zugehört.
Ich habe einer Freundin geschrieben, dass es mir gerade nicht so gut geht.
Ich habe auf dem Balkon gesessen und Himbeeren gegessen (pilzfreie).
Ich schreibe gerade.
Und ich erlaube mir, das alles schön zu finden. Es sind die kleinen Dinge, die Tage wie diesen zu besseren Tagen mache.

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