Spürbar

05.08.2017

Sich selbst nicht mehr spüren zu können, ist etwas, was fast jeder Borderliner kennt. Und was unheimlich schwer zu beschreiben ist. Nicht weiter überraschend: Ich versuche es trotzdem.
Also dann.
Sich selbst nicht mehr zu spüren, das fühlt sich an wie die Nachwirkungen der Betäubungsspritze beim Zahnarzt: Man weiss, dass die Zunge noch dran ist und die Zähne nicht plötzlich die Aussicht geniessen, wo früher eine Wange war. Im Fall der borderlin'schen Unspürbarkeit dehnt sich dieses Gefühl allerdings auf den ganzen Körper aus. Wäre ganz praktisch, wenn's denn steuerbar wäre. Für lästige Arzttermine zum Beispiel. Oder kurz bevor man vom Pferd fällt, mit dem Fahrrad gegen einen Baum fährt oder sich das kochende Wasser über die Finger statt in die Teetasse kippt. Ist aber leider nicht kontrollierbar. Und damit so gar nicht mehr praktisch. Es ist denn auch nicht nur der Körper, den wir nicht mehr spüren, das wäre ja langweilig. Damit es so richtig spannend bleibt, ist auch die Verbindung zu den Emotionen gekappt. Die sind zwar noch da, irgendwie jedenfalls, aber nicht mehr zugänglich. Als würde man sie durch eine Glasscheibe hindurch beobachten. Man sieht, dass es regnet, aber man wird nicht mehr nass.
Sich selbst nicht mehr spüren zu können, das ist wie eine völlige Lähmung, obwohl mein Körper weiterhin bewegt wird. Nur eben nicht von mir.
Ich kenne diesen Zustand in akuter und eher kurzzeitiger oder aber fast schon chronischer und damit langfristiger Form. Ersteres endet bei mir nicht selten in einer partiellen oder vollständigen Dissoziation (dazu an anderer Stelle mehr). Nicht schön. Ganz und gar nicht schön. Aber weniger bedrohlich, seit ich lerne, die Frühwarnzeichen nicht nur zu erkennen, sondern sie auch ernst zu nehmen (es bringt tatsächlich mehr, die rote Ampel nicht bloss zu sehen, sondern auch anzuhalten. Glaubt man kaum, ist aber so).
Die zweite Variante ist dagegen wirklich übel. Weil sie über Tage oder Wochen andauern kann und ich mich dem Zustand machtlos ausgeliefert fühle. Das sind die Zeiten, in denen ich anwesend bin, ohne da zu sein. In denen ich mir selbst beim Existieren zusehe und nach dem Essen nicht weiss, warum der Teller leer ist, weil ich es ebenfalls bin. In denen ich Musik höre und mich nicht ärgere, wenn der Text schlecht ist, weil Worte mich nicht länger berühren können. In denen ich Menschen treffe und mit ihnen rede, ohne etwas zu sagen. Zeiten, in denen mich aus dem Spiegel eine Fremde ansieht. Ich kenne dich nicht, aber ich schminke dich trotzdem. Und wenn das Ergebnis unbrauchbar ist, bleibt da höchstens ein bisschen Fremdschämen übrig.
Sich selbst nicht spüren zu können. Das ist, als würde man durch die Hölle wandern und dem Ich beim Verbrennen zuschauen, ohne es davor retten zu können.Das waren die Momente, in denen ich mich am heftigsten verletzt habe. Ja: waren. Die tiefsten Schnittwunden und die rücksichtslosesten Essanfälle gehören in diese Zeiten. Weil ich so dringend einen Beweis dafür brauchte, noch da zu sein. Schmerz liefert diesen Beweis. Zuverlässig und kontrollierbar. Toll. Eine Lösung für das Problem. Eigentlich. Wenn's nicht so - Verzeihung - scheisse wäre. Denn auf Selbstverletzung und Essanfälle folgte, nachdem die erste Euphorie abgeklungen war, mindestens ebenso zuverlässig entweder abgrundtiefer Selbsthass oder völlige Leere. Gefühle und Nichtgefühle, die ich nicht länger möchte. Was gut ist. Nur, dass damit die Unspürbarkeit nicht automatisch verschwindet. Wäre ja zu leicht - und ein Leben mit Borderline ist alles, aber bestimmt nicht leicht. Bleibt also nur, selbst Wege zu finden, mich wieder zu spüren, und zwar so, dass keine Narben entstehen und ich nicht erst Blut erbrechen muss, um mich selbst - oder was davon übrig bleibt - wiederzufinden in meinem eigenen Chaos.
Das war ein ziemlich mühsames Ausprobieren. Und ich übe noch immer. Manchmal klappt nämlich etwas nicht, das zwei Wochen zuvor hervorragend funktioniert hat, so sehr ich mich auch anstrenge. Dann würde ich gerne aufgeben. Ist bloss keine Option. Nicht mehr.
Was fast immer hilft: Sport. Nicht bloss eine kleine Runde durch den Wald laufen, sondern rennen, bis ich nicht mehr kann. Anstrengung bis an die Belastungsgrenze und darüber hinaus, denn wenn ich diese Grenze spüre, spüre ich auch wieder, dass es meine Grenze ist. Das hat gedauert, bis daraus keine Selbstverletzung mehr wurde, aber mittlerweile klappt das. Was wirklich, wirklich toll ist. Und, was mindestens ebenso toll ist, wenn auch nicht ganz so aggressiv: schreiben geht auch. Ich weiss schon länger, dass ich mich aus der Welt schreiben kann, wann immer sie mir zu viel wird. Aber ich weiss erst seit Kurzem, dass ich mich auch wieder in sie zurückschreiben kann. Dass ich mich in mich selbst zurückschreiben kann. Das müssen keine besonders zusammenhängenden Texte sein, kein grandioser Inhalt mit Nobelpreispotential und zu Tränen rührende Poesie in der Ausdrucksweise. Es reicht, einfach nur die Worte aneinanderzureihen, die da gerade durch meinen Kopf spuken. Weil es meine Worte sind. Und damit ein Teil von mir. Wenn ich dann, nach einer Pause meist (weil's ganz schön anstrengend ist, sich schreibend zu reanimieren), lese, was ich da produziert habe, ist das ein wenig, als würde ich mir tatsächlich die Arme aufschneiden: Ich öffne mich und schaue dabei zu, wie ein Teil von mir nach aussen fliesst. Nur, dass beim Schreiben keine Narben entstehen. Weh tut's meist auch, aber das bringt Spürbarkeit so mit sich. Passt schon. Damit kann ich leben. Wenn ich nämlich spüre, dass ich überhaupt irgendwie lebe, ist in solchen Zeiten schon viel erreicht.

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