Spürbar
Sich selbst nicht mehr spüren zu können, ist etwas, was fast
jeder Borderliner kennt. Und was unheimlich schwer zu beschreiben ist. Nicht
weiter überraschend: Ich versuche es trotzdem.
Also dann.
Sich selbst nicht mehr zu spüren, das fühlt sich an wie die Nachwirkungen der
Betäubungsspritze beim Zahnarzt: Man weiss, dass die Zunge noch dran ist und
die Zähne nicht plötzlich die Aussicht geniessen, wo früher eine Wange war. Im
Fall der borderlin'schen Unspürbarkeit dehnt sich dieses Gefühl allerdings auf
den ganzen Körper aus. Wäre ganz praktisch, wenn's denn steuerbar wäre. Für
lästige Arzttermine zum Beispiel. Oder kurz bevor man vom Pferd fällt, mit dem
Fahrrad gegen einen Baum fährt oder sich das kochende Wasser über die Finger
statt in die Teetasse kippt. Ist aber leider nicht kontrollierbar. Und damit so
gar nicht mehr praktisch. Es ist denn auch nicht nur der Körper, den wir nicht
mehr spüren, das wäre ja langweilig. Damit es so richtig spannend bleibt, ist
auch die Verbindung zu den Emotionen gekappt. Die sind zwar noch da, irgendwie
jedenfalls, aber nicht mehr zugänglich. Als würde man sie durch eine
Glasscheibe hindurch beobachten. Man sieht, dass es regnet, aber man wird nicht
mehr nass.
Sich selbst nicht mehr spüren zu können, das ist wie eine völlige Lähmung, obwohl
mein Körper weiterhin bewegt wird. Nur eben nicht von mir.
Ich kenne diesen Zustand in akuter und eher kurzzeitiger oder aber fast schon
chronischer und damit langfristiger Form. Ersteres endet bei mir nicht selten
in einer partiellen oder vollständigen Dissoziation (dazu an anderer Stelle
mehr). Nicht schön. Ganz und gar nicht schön. Aber weniger bedrohlich, seit ich
lerne, die Frühwarnzeichen nicht nur zu erkennen, sondern sie auch ernst zu
nehmen (es bringt tatsächlich mehr, die rote Ampel nicht bloss zu sehen,
sondern auch anzuhalten. Glaubt man kaum, ist aber so).
Die zweite Variante ist dagegen wirklich übel. Weil sie über Tage oder Wochen
andauern kann und ich mich dem Zustand machtlos ausgeliefert fühle. Das sind
die Zeiten, in denen ich anwesend bin, ohne da zu sein. In denen ich mir selbst
beim Existieren zusehe und nach dem Essen nicht weiss, warum der Teller leer
ist, weil ich es ebenfalls bin. In denen ich Musik höre und mich nicht ärgere,
wenn der Text schlecht ist, weil Worte mich nicht länger berühren können. In
denen ich Menschen treffe und mit ihnen rede, ohne etwas zu sagen. Zeiten, in
denen mich aus dem Spiegel eine Fremde ansieht. Ich kenne dich nicht, aber ich
schminke dich trotzdem. Und wenn das Ergebnis unbrauchbar ist, bleibt da
höchstens ein bisschen Fremdschämen übrig.
Sich selbst nicht spüren zu können. Das ist, als würde man durch die Hölle
wandern und dem Ich beim Verbrennen zuschauen, ohne es davor retten zu können.Das waren die Momente, in denen ich mich am heftigsten verletzt habe. Ja:
waren. Die tiefsten Schnittwunden und die rücksichtslosesten Essanfälle gehören
in diese Zeiten. Weil ich so dringend einen Beweis dafür brauchte, noch da zu
sein. Schmerz liefert diesen Beweis. Zuverlässig und kontrollierbar. Toll. Eine
Lösung für das Problem. Eigentlich. Wenn's nicht so - Verzeihung - scheisse wäre.
Denn auf Selbstverletzung und Essanfälle folgte, nachdem die erste Euphorie
abgeklungen war, mindestens ebenso zuverlässig entweder abgrundtiefer
Selbsthass oder völlige Leere. Gefühle und Nichtgefühle, die ich nicht länger
möchte. Was gut ist. Nur, dass damit die Unspürbarkeit nicht automatisch
verschwindet. Wäre ja zu leicht - und ein Leben mit Borderline ist alles, aber bestimmt
nicht leicht. Bleibt also nur, selbst Wege zu finden, mich wieder zu spüren,
und zwar so, dass keine Narben entstehen und ich nicht erst Blut erbrechen
muss, um mich selbst - oder was davon übrig bleibt - wiederzufinden in meinem
eigenen Chaos.
Das war ein ziemlich mühsames Ausprobieren. Und ich übe noch immer. Manchmal
klappt nämlich etwas nicht, das zwei Wochen zuvor hervorragend funktioniert
hat, so sehr ich mich auch anstrenge. Dann würde ich gerne aufgeben. Ist bloss
keine Option. Nicht mehr.
Was fast immer hilft: Sport. Nicht bloss eine kleine Runde durch den Wald
laufen, sondern rennen, bis ich nicht mehr kann. Anstrengung bis an die
Belastungsgrenze und darüber hinaus, denn wenn ich diese Grenze spüre, spüre
ich auch wieder, dass es meine Grenze ist. Das hat gedauert, bis daraus keine
Selbstverletzung mehr wurde, aber mittlerweile klappt das. Was wirklich,
wirklich toll ist. Und, was mindestens ebenso toll ist, wenn auch nicht ganz so
aggressiv: schreiben geht auch. Ich weiss schon länger, dass ich mich aus der Welt
schreiben kann, wann immer sie mir zu viel wird. Aber ich weiss erst seit Kurzem,
dass ich mich auch wieder in sie zurückschreiben kann. Dass ich mich in mich
selbst zurückschreiben kann. Das müssen keine besonders zusammenhängenden Texte
sein, kein grandioser Inhalt mit Nobelpreispotential und zu Tränen rührende
Poesie in der Ausdrucksweise. Es reicht, einfach nur die Worte aneinanderzureihen,
die da gerade durch meinen Kopf spuken. Weil es meine Worte sind. Und damit ein
Teil von mir. Wenn ich dann, nach einer Pause meist (weil's ganz schön
anstrengend ist, sich schreibend zu reanimieren), lese, was ich da produziert
habe, ist das ein wenig, als würde ich mir tatsächlich die Arme aufschneiden:
Ich öffne mich und schaue dabei zu, wie ein Teil von mir nach aussen fliesst.
Nur, dass beim Schreiben keine Narben entstehen. Weh tut's meist auch, aber das
bringt Spürbarkeit so mit sich. Passt schon. Damit kann ich leben. Wenn ich
nämlich spüre, dass ich überhaupt irgendwie lebe, ist in solchen Zeiten schon
viel erreicht.