Ganzheitlich

01.08.2017

Erkenntnis des gestrigen Abends: Ich habe einen ganzen Schrank voller Identitäten. Ziehe mir diejenige heraus, die ich für das jeweilige Umfeld als passend erachte, stimme alles darauf ab und bleibe dabei, bis ich wieder alleine bin. Und völlig erledigt. Über die Jahre hinweg habe ich dieses Schema so sehr perfektioniert, dass ich dann glaube, tatsächlich so zu sein, wie ich mich gerade gebe. Dass ich eigentlich keine Ahnung habe, wer ich wirklich bin, lässt sich dank der vielen verschiedenen Rollen herrlich leicht ignorieren. Oder eher: liess. Denn allmählich kriegt die Sache einen gewaltigen Haken. Ein Haken in Form eines Bauchgefühls, das immer öfter und immer stärker rebelliert, wenn ich ihm ein Gesicht überstülpen möchte, das nicht wirklich mein eigenes ist. In fast allen dieser Identitäten steckt zwar ein Teil von mir, jedenfalls glaube ich das, aber diesem Bauchgefühl reicht das nicht mehr. Es hat die Schnauze voll davon, still in der Ecke zu sitzen und zuzusehen, wie ich mich einem Identitätsdresscode unterwerfe, der mir zu eng geworden ist (zweite Erkenntnis: mein Bauchgefühl hat eine Schnauze. Fragwürdiges Bild). Und diese Enge macht bisweilen ziemlich wütend.
Ironischerweise ist mir das in der letzten Nacht so überdeutlich bewusst geworden, weil ich am vergangenen Abend zum ersten Mal seit langem keine Rolle gespielt habe. Ich war ich selbst. Ernst und traurig und lustig und sarkastisch und nachdenklich und motiviert und amüsiert und begeistert und freudig und stolz und besorgt und dankbar. Laut und leise. Forsch und zurückhaltend. Interessiert und mitfühlend. Und noch vieles mehr, und alles davon gehört auch zu meinen Identitäten, aber keine von ihnen vereint das alles. Das ist es, wogegen mein Bauchgefühl rebelliert: Ich spiele zwar nicht vor, fröhlich zu sein, aber ich spiele vor, nur fröhlich zu sein. Oder traurig. Oder redselig. Weil ich die Erfahrung gemacht habe, dass Menschen überfordert sind, wenn all das, was mich ausmacht, auf einmal da ist. Wenn all meine Gefühle auf einmal da sind. Was verständlich ist. Was ich auch niemandem (naja, fast) vorwerfe. Ich war und bin ja selbst davon überfordert. Bisher hat das Theaterspiel auch bestens funktioniert. Ich war zwar nicht glücklich dabei, nicht wirklich jedenfalls, aber glücklich war ohnehin keine Rolle, die ich besonders oft gespielt hatte. So what. Gestern war ich es. Ohne Anstrengung. Und ohne Angst, jemanden zu überfordern. Weil ich den Abend mit einem Menschen vebracht habe, vor dem ich nichts verstecken muss. Bei dem ich nie das Gefühl hatte und habe, ihn vor mir selbst schützen zu müssen. Und der mir nie das Gefühl gab, krank zu sein. Sondern Mensch. Wie auch immer du dich fühlst, es ist okay. Es darf so sein, und ich mag dich dafür. Nicht exakt sein Wortlaut, aber genau das, was er sagte. Und ich versuche, das Gefühl festzuhalten. Das Gefühl, ich selbst zu sein oder zumindest auf der neugierigen Suche nach mir. Ich habe mich noch nicht gefunden, und das wird wahrscheinlich auch noch eine ganze Weile dauern. Aber auch das darf so sein. Hey, ich bin immerhin Borderlinerin. Da gehört es zum guten Ton, sich selbst entweder abscheulich oder gar nicht zu finden. Aber auch dieser Dresscode erscheint mir nicht mehr angemessen. Ich habe keine Lust mehr, mich zu hassen. Wird trotzdem immer mal wieder vorkommen (genau: auch das darf sein). Aber das heisst nicht, dass die Selbstvernichtung Anspruch auf Allgemeingültigkeit hat. So genial, dass sie den Titel Dauerbrenner verdient hätte, ist sie nun auch wieder nicht. Bild' dir also bloss nichts ein!
Ich frage mich gerade, ob ich mich überhaupt selbst hassen kann, wenn ich nicht ich selbst bin. Ich habe in all diesen Rollen Abscheu, Abwertung und Autoaggression gespürt. Nicht immer gleich intensiv, aber das Trio war immer da. Die unheilige Dreieinigkeit der Selbstverachtung. Gestern nicht. Vielleicht, weil ich eigentlich gar nicht mich, sondern vielmehr diese Rollen, das ständige Theaterspiel, verabscheue? Eine sehr gewagte These. Eine Borderlinerin, die ihren Selbsthass in Frage stellt! Wohin soll das bloss noch führen? Wen wundert's da, dass die Welt am Abgrund steht? Was meine These trotz nicht signifikanter Stichprobe stützt: Gestern hielt diese penetrante Trinität die Klappe. Gestern hatte alles Platz, was da war. Gestern war ich ich, ohne mich dafür zu hassen. Oder, um es mit einem meiner Lieblingszitate zu sagen, von denen ich bis vor einer halben Stunde nicht wusste, weshalb ich es so mag:
Ich habe das Herz gefühlt, die grosse Seele, in deren Gegenwart ich mir schien mehr zu sein, als ich war, weil ich alles war, was ich sein konnte.
Schrieb Goethe.
Gestern war ich vollzählig. Schreibe ich. Nicht ganz so poetisch. Aber genauso wahr.

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