Versprochen

23.07.2017

Die Starre ist vorbei. Die Leere wird zumindest wieder unterbrochen. So traurig der Grund dafür auch ist, ich bin froh darüber, wieder traurig zu sein. Weil ich mit Emotionen besser umgehen kann als mit deren Abwesenheit. Und weil es adäquat ist, traurig zu sein. Traurig darüber, dass ein Mensch, der mir trotz riesiger Distanz zwischen unseren Leben irgendwie nahe war, sich das Leben genommen hat. Ich kannte ihn nicht persönlich. Und ich falle deswegen nicht ins bodenlose Schwarz, aus dem es kein Entrinnen zu geben scheint. Aber ich bin traurig. Suizid ist nun mal traurig. Jedenfalls für die, die zurückbleiben. Und weil das Thema mich so nachdenklich stimmt, tue ich genau das: darüber nachdenken. Suizid betrifft in der ein oder anderen Weise fast alle Boderliner irgendwann. Was nicht heisst, dass wir alle derartige Versuche hinter uns haben. Aber die Gedanken daran sind weit verbreitet (das gilt natürlich auch für viele andere psychische Erkrankungen). Und weil es so viele sind, die sowas kennen, halte ich es für umso erschreckender, dass darüber nicht gesprochen wird. Nicht wirklich. Man ist zwar allgemein schockiert über Chester Benningtons Suizid. Oh, wie schrecklich! Der arme Mensch! Hätte ihm doch bloss jemand geholfen! Er war doch so talentiert! Oder erbost. Wie konnte er das nur tun? Wie kann man nur so egoistisch sein? Suizid generell für egoistisch zu erklären, ist zu einfach gedacht. Einem Suizid geht entweder Leid voraus, oder, was besonders bei Alterssuizid oft der Fall ist, die Angst vor zukünftigem Leid. Wenn es nun also egoistisch ist, sich das Leben zu nehmen, weil Andere dadurch leiden, dann ist es genauso egoistisch, zu verlangen, dass ein Mensch leidend am Leben bleibt, um es Anderen zu ersparen. Du musst weiterleiden, damit ich es nicht muss. Mir fällt spontan keine ethische Richtung ein, mit der diese Ansicht vertretbar wäre. Und dann ist da noch Unverständnis. Er hatte doch Kinder! Er hatte doch Freunde! Er hatte doch Familie! Ja, hatte er. Wie so viele andere Menschen auch, die sich das Leben genommen haben. Und wenn es nicht so verdammt verpönt wäre, über Suizidgedanken zu sprechen, dann würden einige von diesen Menschen vielleicht noch leben. Oder ihre Angehörigen hätten wenigstens eine Chance gehabt, sich zu verabschieden. Das wäre vielleicht leichter zu verkraften.
Suizid betrifft nie nur eine Person. Suizid macht etwas mit den Menschen, die zurückbleiben. Im Fall von Chester Bennington sind das aussergewöhnlich viele. Und diese Dynamik ist nicht ganz ungefährlich. Einen gleichwohl erschreckenden und eindrucksvollen Beweis lieferte Goethe im Jahr 1774 mit seinem Briefroman Die Leiden des jungen Werthers, nach dessen Erscheinen die Suizidrate unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen für fast drei Jahre rapide anstieg. Das Wertherfieber war geboren. Und das Virus lebt weiter.
Dieses Virus ist meiner Ansicht nach einer der Hauptgründe für die unter Borderlinern allseits beliebten Threapieverträge. Aber - und ich hätte vor zwei Jahren nie gedacht, dass ich das einst wirklich so meine - sie haben ihre Berechtigung. In Therapiegruppen kommen nämlich Menschen zusammen, die sich gegenseitig dabei unterstützen wollen, das eigene Leid zu lindern oder loszulassen. Die voneinander und den unterschiedlichen Erfahrungen profitieren und sich gegenseitig unterstützen können. Und dazu gehört der Therapievertrag. Da steht nämlich drin, dass jedes Gruppenmitglied ein Nonsuizidversprechen abgibt. Heisst konkret: Man bringt sich für die Dauer der Gruppentherapie nicht um (und versucht es auch nicht). Punkt. Weil ein Suizid oder ein Versuch Auswirkungen auf die ganze Gruppe hätte. Weil die anderen Mitglieder unheimlich getriggert würden. Im besseren der schlechten Fälle ist dann bloss die Gruppentherapie nicht mehr möglich, weil sich alles nur noch um den Suizid des einen Mitglieds dreht. Im wesentlich schlimmeren Fall bricht eine interne Gruppenepidemie aus. Eigentlich geht's mir doch genauso beschissen wie ihm. Eigentlich komme ich mit dieser verfluchten Krankheit genauso wenig klar wie sie. Eigentlich kann ich längst selbst nicht mehr. Eigentlich sehe auch ich keinen Grund mehr, zu kämpfen.
Heisst im therapeutischen Kontext: Der Therapievertrag macht Sinn! Für jeden von uns Betroffenen, und auch für jeden anderen Menschen, mit dem wir in dieser Beziehung zu tun haben. Auch für unsere Therapeuten. Ich erinnere mich, dass meine Therapeutin einst sagte, sie könnte kaum noch ruhig schlafen, wenn sie andauernd befürchten müsste, ich könnte mir zwischen zwei Sitzungen das Leben nehmen. Diese Angst würde jede echte Zusammenarbeit unmöglich machen. Und sie hat Recht. Man stelle sich nur mal einen Herzchirurgen vor, der während einer komplizierten Operation ständig die Angst vor Augen hat, sein Patient könnte sterben. Das ist zwar möglich, und der Arzt weiss das auch und könnte im Notfall damit umgehen, aber diese Angst darf nicht im Vordergrund stehen. Tut sie es doch, wird er nicht in der Lage sein, die Operation bestmöglich durchzuführen.
Nun kann der Herzpatient natürlich nicht versprechen, dass er am Leben bleibt. Das kann auch ich nicht. Aber ich kann versprechen, keinen Versuch zu unternehmen, mein Leben zu beenden. Was nicht heisst, dass ich nicht suizidal sein darf. Das lässt sich, besonders zu Beginn der Therapie, oft wirklich nicht verhindern. Es heisst nur, dass ich mir rechtzeitig Hilfe hole, wenn es so ist. Damit aus den Gedanken keine Handlungen werden. Für mich selbst. Für meine Therapeutin. Für meine Gruppe. Weil ich mir das auch von ihnen wünsche.
Denn:
Who cares if one more light goes out?
Well, I do.



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